Privates


Heinz Kiwitz mit den Schwestern Trudel und Änne um 1930

Biographische Aufzeichnungen von seiner älteren Schwester
 
Mein Bruder war ein hölzerner, kräftig entwickelter, schüchterner Junge mit starkem, rostbraunem Haar, braunen Augen, gerader Nase, einem selten starken, weißen Gebiss und einem dicklippigen Mund. Verträumtheit und Hilflosigkeit drückten seine Gebärden aus. Soweit ich mich entsinnen kann, habe ich ihn nur malend und zeichnend gesehen. Als fünf- und sechsjähriger Junge bemalte er meine Märchenbücher in der Art, dass er den abgebildeten Märchengestalten, besonders den Märchenfeen, Bärte und Schnurrbärte mit einer Beharrlichkeit und Ausdauer anhängte, dass ich, wenn ich den Inhalt der Geschichten mit dem grotesken Aussehen der Märchengestalten verglich, nicht mehr in den Genuss der märchenhaften Vorstellung kam. Als zehnjähriger Junge malte er meine Schulzeichnungen und ich bekam eine Eins im Zeichnen. Stundenlang saßen wir am Tisch, und ich musste ihm sagen, was er malen sollte. Dann entstanden mit Vorliebe Pferdchen und Strichmänner mit grotesken Bewegungen. Fürchterlich waren seine Leistungen in der Schule. Mutter musste vom ersten Schultag bis zum letzten jedes Jahr mehrere Male zur Schule, da seine Leistungen in Mathematik einfach katastrophal waren. Nicht die einfachste Rechenaufgabe konnte er lösen. Das Einmaleins saß einfach nicht. Ich glaube, die Mathematik war für ihn die chinesische Mauer, über die er nicht weg konnte, weil der Teil, der vor der Mauer lag, so unendlich reich und vielfältig war, dass er vor lauter Sehen und Staunen, Blumenpflücken und Schmetterlingsfangen nie bis an die Mauer herankam.

Das Tollste bei ihm war der vollständig fehlende Orientierungssinn. 1931 machten wir eine Belgienreise: Antwerpen, Gent, Brügge, Brüssel, die museenreichen Städte hatten es uns angetan. In jeder größeren Stadt kauften wir uns einen Stadtplan, und dann breiteten wir den Plan vor uns aus; auf der Hauptstrasse stehend, zählten wir die Gebäude auf der Karte und in natura ab. Dann gab es schon die größeren Konflikte. Wo Norden, Süden, Osten und Westen war, das kriegten wir nicht heraus. Wir gaben es dann auf, ließen uns treiben, atmeten auf, fragten uns durch und waren wie erlöst. Wir mussten sparsam leben und taten es auch; aber darüber hinaus eine weiter Einteilung vorzunehmen, gelang ihm nie. Eine schriftliche Niederlegung unserer Ausgaben war ihm eine schreckliche, grauenerregende Mühsal, die ihm durchaus zuwider lag. In Brügge bewegten wir uns dann tagelang um den Belfried herum, weil das der markanteste Punkt in der Stadt war, den wir nicht aus den Augen verlieren wollten. In den flandrischen Museen verloren wir uns manchmal aus den Augen. Wenn ich ihn aber längere Zeit nicht gesehen hatte, dann dauerte es nicht lange, bis seine große, etwas grotesk erscheinende Gestalt mit wirrem Haarschopf, wehendem Mantel, langen Schritten und bekümmertem Gesichtsausdruck auf mich zukam. Manchmal versteckte ich mich, um ihn in Unruhe zu versetzen. Dann suchte er mich ängstlich von einem Raum zum anderen, und ich weidete mich an seiner Unruhe, bis ich vor Mitleid nicht mehr konnte. Sein Suchen wurde dann planlos und sinnlos, und nur Angst lag in seinen Gesichtszügen. Hatte er mich erwischt, dann schimpfte er in ungeschminkten, aber humorvollen Ausdrücken. Ich erwiderte ebenso, bis wir in eine Manie hineingerieten, die wir von Jugend an kultivierten. Wir suchten nach neuen Ausdrücken, ein Wort gab das andere. Es war aber nicht mehr ein böser Streit, sondern ein Suchen nach neuen originellen Ausdrücken. Da er mir an Originalität überlegen war, rang ich zum Schluss vergeblich nach Worten und konnte nicht mehr weiter, während er sich an meinem Mangel an Worten weidete und wundervolle Schimpfworte neu erfand.

Wir sahen in den Museen Gent, Brügge und Antwerpen die flandrische Kunst, u. a. die wundervolle leuchtenden Gemälde von Rubens und van Dyck, die handgeschnitzten Kanzeln, Beichtstühle usw. Als ich zum Schluss in einem Museum in Brüssel von all der Pracht so überwältigt wurde, dass ich es nicht mehr fassen konnte, kam er wütend auf mich zu. "Du machst es verkehrt, sagte er. Sieh dir ein Bild gut an und dann mache Schluss; es ist unmöglich, alles zu behalten".

Um die Heimat Pallieters, den er im Vorjahr illustriert hatte, kennenzulernen, wollten wir, mit Rucksäcken bewaffnet Antwerpen hinter uns lassend, an der Schelde entlang durch Flandern wandern. Aber wer Antwerpen kennt, weiß, wie weit sich die Kaianlagen am Ufer der Schelde entlang erstrecken. Als wir Antwerpen hinter uns hatten, sagte ich zu ihm: "Wandern wir auch richtig? Gehen wir nicht dem Meer zu anstatt landeinwärts?"

"Donnerwetter ja! Sagte er. Au ich weiß was, Änne: Wir werfen ein Stück Holz in die Schelde, und da wo es hinschwimmt, ist das Meer." Er hatte stundenlang probiert, denn aus dem sich im Wasser hin und her drehenden Holz konnten wir nicht klug werden. Die Sonne brannte unentwegt auf uns nieder, um uns waren nichts als Kaianlagen, und wir mit unseren Rucksäcken wussten nicht einmal, in welche Richtung wir zu gehen hatten; wie schwer war doch das Leben!

Da wir für die letzte Übernachtung in K. am Meer kein Geld hatten, haben wir diese Nacht bei schönem Wetter am Meeresstrand gesessen. Das ging natürlich ohne Reibereien nie ab. Er sagte mir einige Grobheiten und traf mich an einer empfindlichen Stelle. Ich war unheimlich böse auf ihn und dachte: warte nur! Wir saßen, unseren Streit vollkommen vergessend (das war das Schöne bei uns!), des nachts am Meer und sahen den hell erleuchteten Dampfern zu, die wohl nach Amerika fuhren, und wir hatten noch nicht einmal Geld für die Übernachtung.

Wie er so in Gedanken verloren da saß, schlich ich mich weg und versteckte mich in den Dünen. So, dachte ich, jetzt bekommt er seine Strafe, und lag hinter meiner Düne. Ich hörte ihn nach einiger Zeit aufstehen und dann rief er, erst etwas erstaunt: "Änne?". Als er nichts hörte, wurde er bange und rief lauter "Änne!". Ich weinte vor Mitleid und ging noch nicht. "Änne, Änne!" rief er laut und flehend, und dann kam ich naiv und harmlos daher. Wie wütend bin ich empfangen worden und wie gerne wäre ich vor Mitgefühl zerflossen! Doch so etwas zeigten wir nie, nur im Spaß. Ich ging dann - so war es immer bei uns - scherzend auf ihn zu und nannte ihn mit übertriebenen zärtlichen Namen. Dann wurde er wild, weil er als weich veranlagter Mensch große Angst hatte, seine Gefühle zu zeigen.

Er kam schnaufend auf mich zu und verzog sein Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse. Das konnte ich nicht ertragen; ich wand mich unter dem Anblick wie ein Wurm und schrie und bat: "Komm, mach dein Gesicht wieder richtig!" Eigentlich stellte ich mich erschreckter als mir zu Mute was, um ihm diese Freude zu gönnen.

Es ist nun absolut nicht so, dass er solche Späße nur in der Jugend und im Jünglingsalter machte, nein, das geschah immer und immer wieder bis zu seinem Weggang im Alter von etwa 25 Jahren. Zwischendurch setzte er sich an den Schreibtisch und stichelte und stichelte, dass die Späne flogen. Lachte sich eins und machte dabei seine wundervollsten Holzschnitte, den Pallieter, Menschen und Tiere, den Don Quichote und andere. Wir konnten ihn bei der Arbeit stören, so oft wir wollten. Es ging ganz alltäglich dabei zu und sah nach nichts aus, und mancher Beamte, der einen Bleistift spitzt, macht mehr Aufhebens davon, als mein Bruder von seiner Arbeit. Niemals sahen wir den Glanz der Inspiration auf seiner Stirn, den man als Laie dich eigentlich vom Künstler verlangen kann, und niemals zogen die Wolken der Schaffensqual darüber hin. Es ging ehre zu wie bei einem, der weiß, was er kann, und der nicht erst in seinem Inneren oder in der Kunstgeschichte zu suchen braucht, um zu wissen, wie man eine Tür streicht. Ganz nebenbei entstanden entzückende Zeichnungen in Sekundenschnelle, die er dann achtlos beiseite warf. Hätte mein Vater nicht sorgsam die fliegenden Blätter gesammelt, so besäßen wir heute nur einen winzigen Bruchteil seiner Arbeiten.

Sein Abgott war unsere kleine Schwester. Jeden und jeden Abend kroch er zu ihr ins Bett und erzählte ihr immer und immer wieder ein neues, von ihm erfundenes Märchen. Je grausiger es war, desto besser.

Mit siebzehn Jahren ging er in den Boxclub, und das Training zu Hause musste ich wohl oder übel mitmachen. Wenn er Seil sprang, dröhnte die Wohnung, denn er brachte bei 1.92 m den Fußboden und das Mobiliar zum Erzittern. Gemeinsam durchschwammen wir den Rhein, und ich sehe ihn noch an mir vorbeikraulen. Wie stolz war er, als es ihm zum ersten Mal gelang, mich als ältere Schwester zu überflügeln. Seine stolze, selbstzufriedene Miene, seinen wirren Haarschopf und sein gütiges, ein wenig eitles Lächeln werde ich nie vergessen. Überhaupt, seine überragende Körperlichkeit versuchte er nicht selten mit einer kindlichen Freude ins rechte Licht zu rücken. Seine körperliche Wucht war aber verbunden mit Tollpatschigkeit, und nicht selten bekam ich in einem Restaurant Biergläser in den Schoß geschüttet und Garderobenständer wankten beträchtlich. Ich habe immer ein ängstliches Gefühl gehabt, mit ihm ein Restaurant zu besuchen, denn irgend eine peinliche Situation wurde mir bereitet.

Da er kurzsichtig war, konnte es vorkommen, wenn ihn ein Gesicht besonders interessierte, dass er bis auf 30 cm Abstand an einen Tisch herantrat und ungeniert sich den Menschen aus der nächsten nähe betrachtete; ich saß dann zitternd hinter einer Zeitung. Wollte er sich eine Zigarette anzünden, dann stand er in seiner ganzen Länge kerzengerade auf und stolzierte von einem Tisch zum anderen. Fand er dann einen hinter seiner Zeitung rauchenden lesenden Herrn, so steckte er den Kopf zwischen Zeitung und Zigarette und bat den zu Tode erschrockenen um Feuer.

Einmal ging ich mit ihm Schuhe kaufen, und die Verkäuferin suchte Schuhe Größe 46, die um uns herumlagen. Er probierte ein Paar nach dem anderen, die Verkäuferin und ich schwitzten schon. Die Verkäuferin saß auf einem kleinen Schuhkasten dicht vor ihm. Er nahm sich einen Schuh, zwängte den Fuß hinein, vermisste den Schuhanzieher und bat nicht etwa darum, sondern vermutete ihn im Schoß der Verkäuferin, und während er mit der rechten Hand vergeblich versuchte, ohne den Anzieher in den Schuh zu kommen, tastete seine linke Hand vor und fingerte im Schoß der Verkäuferin herum. Das arme Mädchen wurde rot und ich verging fast vor Scham, aber mein Bruder in seiner Harmlosigkeit bemerkte den Zwischenfall überhaupt nicht.

Wenn wir Geschwister gemütlich eingehakt durch die Stadt spazieren gingen, machte er sich gerne folgenden Scherz: Er nieste laut, und da sein großer Kopf ein gewaltiger Resonanzkasten war, sah sich alles nach uns um. Unsere kleine Schwester wurde dann sehr verlegen und sagte: "Wenn du das noch einmal machst, kneife ich dich!" Prompt nieste er aus Leibeskräften, wodurch das Aufsehen auf der Straße nur noch schlimmer wurde.

Wie oft weckte er mich nachts aus dem Schlaf, als er seine Pallieter- und Enak-Holzschnitte schuf, um die Abzüge noch mit dem 12-Uhr-Zug nach Berlin zu schicken. Ich musste dann halb schlafend aufstehen, mich anziehen und mit ihm noch zur Bahn gehen, um seine Post noch mit dem letzten Zug nach Berlin zu geben. Mit Riesenschritten ging er voraus, und ich trabte hin und wieder ein paar Schritte, um ihn einzuholen.

Er konnte bei uns zu Hause ganz seiner natürlichen Veranlagung nach leben. Unordnung war bei ihm Trumpf. Er warf sich mit lautem Krachen auf das Sofa, verstreute Krawatte, Kragen und Kragenknöpfchen in weitem Umkreis um sich her, aber wir trugen ihm alles wieder zusammen. Das saloppe Sichgehenlassen brachte eine urgemütliche Atmosphäre in unser Haus. Mit unerhörtem Genuss wurde gegessen, getrunken, gelacht und geweint. Eine Riesenschüssel mit Apfelsinen verschwand im Handumdrehen, und der von der Mutter angesetzte Rumtopf wurde vor der Zeit von ihm aufgegessen.

Wie gut passten seine Holzschnitte zu Pallieter zu unserem Leben zu Hause, seine Freunde am Leben und seine urwüchsige Natürlichkeit könnten keinen besseren Ausdruck finden. Ob es der Schäfer ist, der auf einem Baumstumpf sitzend die Flöte bläst, während seine Schafe um ihn tanzen, oder ob es Pallieter ist, der mit dem Dudelsack einem Ackergaul voranschreitet, auf dem drei dralle Mädchen sitzen: immer war er es selbst, so erlebten wir ihn tausendfach zu Hause in unserer nächsten Nähe. Wenn er der getreue Knecht Enak die kleinen Kinder vor Gefahren beschützt und sicher ins Elternhaus zurückleitet, so ist in diesen Szenen viel von seinen persönlichen Erlebnissen mit unserer kleinen Schwester enthalten. Sogar das Lächeln seine Enakfigur ist nichts als ein getreues Abbild seines eigenen Lächelns.

 

Fritz und Uschis Abenteuer, Tusche / Aquarell auf Papier, 1929